Wer hat Macht? Wie prägt eine einzelne Person die Politik eines Landes? Und was lässt sich anhand der Machthabenden über ein Land aussagen?
Die Bundestagswahl im September 2021 war für viele Deutsche eine Zäsur: Nach sechzehn Jahren endete die Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die friedliche Rotation auf den Plätzen der Macht wurde als selbstverständlich wahrgenommen. Doch das Narrativ der Machtausübung und des Machtwechsels ist in jedem Land und zu jeder Zeit anders. Ausgehend von dieser Überlegung begannen die Fotograf:innen Patrik Budenz und Birte Zellentin, sich mit dem Einfluss einzelner Politiker:innen auf die Geschichte ihrer Länder künstlerisch auseinanderzusetzen.
Das Projekt „Macht“ ist eine Visualisierung von einhundert Jahren globaler Politik anhand ihrer Protagonisten. Dazu wurden für alle Staaten und einige autonome Gebiete Porträts der Machthabenden zwischen 1921 und 2021 herausgesucht und übereinandergelegt. Dabei variiert die Intensität und damit die Sichtbarkeit einer Person je nach Länge ihrer Amtszeit. Das Ergebnis ist eine Serie von 199 Bildern, die eine irritierende und zugleich irisierende Wirkung entfalten und den Bildtypus des Herrscherporträts neu interpretieren.
Die Werke erzählen von einer Vielzahl globalpolitischer Ereignisse und Fragestellungen. Gerade das 20. Jahrhundert war geprägt von Kriegen und Grenzverschiebungen, von Systemumbrüchen und Machtwechseln, von Annexionen und Staatsneugründungen. Um die selbstgewählten Vorgaben des Projekts erfüllen zu können, mussten Budenz und Zellentin tief in die Geschichte der Länder eintauchen und viele Entscheidungen fällen. Wer muss mit welcher Begründung im jeweiligen Landesporträt auftauchen? Wie geht man mit einem Land um, das geteilt wurde, wie mit einem Land, das im betrachteten Zeitraum neu entstand oder mit Ländern ohne globale Anerkennung? Wie sollte man z.B. die politischen Köpfe der beiden deutschen Staaten in einem Bild vereinen? In anderen Fällen wiederum schien es geboten, die Inhaber der politischen Ämter durch die tatsächlichen Machthaber zu ersetzen, lenkte doch beispielsweise Deng Xiaoping 18 Jahre lang ohne institutionelles Amt als „Überragender Führer“ die Geschicke Chinas.
Entstanden ist eine Art Herrschergalerie dieser Welt, an der sich globale Machtstrukturen ablesen lassen. So werden beim Betrachten nicht nur männliche Dominanz, sondern auch Imperial- bzw. Kolonialgeschichte unmittelbar augenfällig. Autokratische Langzeitherrscher geben einem Porträt ein anderes Aussehen als eine Vielzahl (demokratisch gewählter) Staatsoberhäupter. Ehemals diktatorische Systeme scheinen einen Nachhall in den nachfolgenden Demokratien zu hinterlassen – ein Eindruck, der sich beispielsweise im Porträt Italiens aufdrängt.
Dabei offenbaren die Bildwerke auch Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten. Illustriert etwa die Abfolge von vielen kurzen Amtszeiten die Etabliertheit geordneter Machtwechsel oder instabile Machtverhältnisse? Zugleich ist auffällig, dass auch einige Demokratien Langzeit-Amtszeiten zulassen, wie die von Angela Merkel oder François Mitterrand. Ein vergleichender Blick zeigt: Ein Diktator wie Adolf Hitler ist aufgrund seiner 12-jährigen Machtausübung in ähnlicher Intensität sichtbar, obwohl sich die strukturellen Hintergründe seiner Amtszeit fundamental unterscheiden.
Gesichter, die in zahlreichen Bildern wiederkehren, wie beispielsweise Josef Stalin oder Josip Broz Tito, erzählen von Expansionspolitik und vom Zerfall von Großreichen in viele neue Staaten. Doch hier und da entdeckt man ein Merkmal – seien es auffällige Augenbrauen oder ein Schnurrbart –, das sich in der Bildüberlagerung stärker durchsetzt, obwohl die Person vielleicht nur kurze Zeit auf der Weltbühne vertreten war. Steht es dafür, dass auch eine kurze Amtszeit die Geschicke eines Landes nachhaltig beeinflussen kann?
Die Bildserie lädt dazu ein, sich mit den Typologien der Macht auseinanderzusetzen, mit globaler Politikgeschichte und ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart. Sie verdeutlicht Machtstrukturen, zeigt aber auch: Politik – so abstrakt sie mitunter erscheinen mag – wird immer von Menschen gemacht.